REVIEW: Cancer „Totem“

cancer-by-simon-birkEin Aufenthalt in einer Flughafenhalle in Oslo, ein paar Jamsessions und drei gemeinsame Tage in einem Kopenhagener Studio, dies waren die Ereignisse, die 2014 zu dem musikalischen Zusammenschluss von Nikolaj Manuel Vonsild (Leadsänger bei When Saints Go Machine) und Kristian Finne Kristensen (Chorus Grant) sowie deren Debüt-EP „Ragazzi“ führten. Ihr Pseudonym Cancer steht für die Auswirkungen von Schmerz und Wut auf das individuelle Erleben, aber auch für einen Funken Hoffnung in einer destruktiven Welt. Private Schicksalsschläge und die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Geschehnissen rund um den Globus hatten die beiden Männer zu Beginn ihres Projekts derart in ihren Grundfesten erschüttert, dass sich ihre Art, Musik zu machen, verändert hatte, weshalb es einen neuen Raum für diese brauchte. „Ragazzi“ fungierte als jener Raum. Auf der EP ließen Vonsid und Kristensen ihren Impulsen freien Lauf, fusionierten, was lange als unvereinbar galt, und erschufen einen Grundstein, auf den nun ihr erster konzipierter Longplayer „Totem“ aufbaut. Über eineinhalb Jahre arbeiteten Cancer an den Ideen für Songs wie „Die One More Time“ oder „Tears“. Insgesamt entstanden im Zuge des Prozesses elf Stücke – allesamt einzigartig in ihrem Schliff.

totemAls Schnittstelle zwischen Mensch und Natur stellt ein Totem vor allem in der indianischen Kultur ein wichtiges Symbol für deren verwandtschaftliche Beziehung dar. Übertragen auf das Erstlingswerk Cancers lassen sich ähnliche Tendenzen auch im Sound der Platte erkennen. Gleichwohl die gewählten Instrumente zu großen Teilen elektronisch sind, setzen Vonsild und Kristensen sie so geschickt ein, dass sie sich organisch, ja fast lebendig, anfühlen. E-Gitarren-Riffs klingen da wie prasselnder Regen, Synthesizer nach funkelnden Himmelslichtern und Drums nach donnerndem Gewitter. Je mehr man in die Kompositionen der Dänen eindringt, beziehungsweise sich auf diese einlässt, umso ausladender und weitreichender wirken sie. Eine recht spezielle Virtuosität kann man Cancer dabei auch nicht absprechen. Ihre akustische Handschrift ist innovativ, ihre Botschaften markerschütternd. Wie zwei hungrige Schlangen umschlingen sich der hohe Falsettgesang Vonsild und die sanfte Folkstimme Kristensens. „Totem“ braucht Raum, um wachsen zu können. Wer die LP in ein zu enges Kostüm, zwischen Kaffeerunde, S-Bahnfahrt und Fitnessübung, einschnürt, erdrückt ihre Gewalt im Keim und wird nie die Wirkkraft eines „Savage“ oder „Testa Prima Nera“ begreifen können. Gefragt sind Hörer, die sich auf Herausforderungen einlassen wollen. Hörer, die sich nicht vor der Last eines subtilen Pathos fürchten, und dadurch mit der Freiheit des Verstandes belohnt werden.

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