REVIEW: Thom Yorke „ANIMA“

Medienwirksam und – im wahrsten Sinne des Wortes – über Nacht veröffentlichte Thom Yorke um Punkt null Uhr sein neues Studioalbum „ANIMA“. Aber kann die Platte halten, was von ihr erwartet wird?

Es dürfte unumstritten sein, dass der Brite Thom Yorke zu den einflussreichsten und innovativsten Electronica-Künstlern der Welt gehört. Dass er für etliche Meilensteine des zukunftsweisenden Genres verantwortlich ist und dass er es versteht, sein Publikum wieder und wieder in Erstaunen zu versetzen. Außerhalb seiner Erfolgsband Radiohead sorgte Yorke zuletzt mit dem Projekt Atoms For Peace, Kollaborationen im Klassikbereich und dem Soundtrack zu Luca Guadagninos Horror-Remake „Suspiria“ für Begeisterung. Was auch immer der 51-Jährige anfasst, scheint zu Gold zu werden. Als dann in der letzten Woche Projektionen an prominenten Londoner Sehenswürdigkeiten und Anzeigen in den Fahrzeugen der Metro die sogenannten ANIMA Technologies bewarben, war klar, dass Yorke auch für die Veröffentlichung seiner dritten Solo-LP keinerlei Mühen scheuen und erneut auf einen kryptischen Coup zurückgreifen würde, wie er es bereits im Zuge des Releases von „A Moon Shaped Pool“ (2016) getan hatte. Es folgten groß angelegte Screening-Events in IMAX-Kinos mehrerer Metropolen. Bei diesen wurde den Zuschauern eine Kurzfilmkollaboration mit „Magnolia“-Regisseur Paul Thomas Anderson vorgestellt wurde, die das Album begleitet und fortan auch auf Netflix zu sehen sein wird. Imposant in Szene gesetzt, lebt auch „ANIMA“ selbst von einer nebulösen Rätselhaftigkeit, der ein spannendes Motiv zugrunde liegt. Als Anima bezeichnet man in der Psychoanalyse nämlich die weibliche Erscheinung in der Seele des Mannes und zugleich seine Brücke zum Unbewussten. Hat Thom Yorke auf „ANIMA“ also einen Zugang zu den femininen Anteilen seiner Kreativität und zu einem tieferen Verständnis seiner Kunst gefunden? In Zeiten, in denen Genderdebatten an der Tagesordnung sind und das dogmatische Verständnis von Geschlecht endlich aufgebrochen zu sein scheint, ein interessanter Gedanke. Tatsächlich wirken die neun Titel, trotz IDM-, Psychedelica- und Kraut-Rock-Referenzen, wesentlich organischer und harmonischer, als man es in der Vergangenheit oft von Yorke gewohnt war. Träumerisch mäandern die Melodien durch weit angelegte Klanglandschaften, während Yorkes Gesang in der Unendlichkeit verhallt. Zwar mag nicht unbedingt jeder etwas mit der heraufbeschworenen Atmosphäre anfangen können, wer jedoch einen Faible für experimentelle Ambientsounds hat, der dürfte hier vielleicht sein neues Lieblingsalbum in den Händen halten.

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