Feists „Multitudes“ veranschaulicht mehr denn je, wozu Musik in der Lage ist. Nämlich die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Wahrheit und Vision vollkommen aufzuweichen und Hoffnung zu schenken, wo Trauer wütet.
Über eineinhalb Jahre ist es her, dass die Kanadierin Feist ausgerechnet die Elbmetropole Hamburg auserkor, um dort erstmals vor Publikum eine Reihe neuer Songideen zu performen. „Multitudes“ nannte sie damals das Programm, das für wenige Shows mit limitierten Sitzplätzen in der alternativen Kulturstätte Kampnagel residierte. Feist war dabei ihrer Hörerschaft – trotz Pandemie und Abstandsregelungen – physisch wie psychisch derart nah, dass das Wort Intimität der Situation als solcher kaum noch gerecht wird. Die Stücke, Reflexionen angestoßen von der Adoption ihrer Tochter und dem Verlust ihres Vaters, waren damals noch unfertig, zerbrechlich. Doch schenkten sie den Menschen das, wonach sich alle nach Monaten des Abstands, der Einsamkeit und des Verzichts auf Konzerte so sehr gesehnt hatten: Eine Perspektive. Eine Aussicht darauf, dass es weitergehen würde. Wie nach dem Tod einer geliebten Seele und der Ankunft einer neuen. Sich derart verletzlich seinen Fans gegenüber zu zeigen, das verlangt Mut. Vielleicht war es aber auch ein wichtiger, unausweichlicher Schritt für Leslie Feist, denn so erhielt sie eine direkte Resonanz auf das, was sie zuvor lange in ihrem Kopf und unter ihrer Brust mit sich herumgetragen hat. Schaute man nach besagten Konzerten in die Gesichter der Besucher, so ließ sich von diesen in erster Linie Glückseligkeit ablesen. Nichts anderes dürfte passieren, wenn „Multitudes“ nun als fertig produziertes Werk in das Zuhause von Millionen von Menschen getragen wird. Spätestens seit ihrem internationalen Durchbruch mit „Let It Die“ (2004) gilt die 47-Jährige als Galionsfigur für beseelte Folkmusik. „Multitudes“ profitiert davon ebenso wie von seiner bewegenden Hintergrundgeschichte. Ob geloopte Chorgesänge, Feist unverwechselbares Gitarrenspiel oder all die zarten, verspielten und unheimlich durchdacht platzierten Stilelemente, die aus einer simplen Melodie ein Gedicht machen – ihr sechstes Studioalbum lässt alle Erwartungen, die man es hatte, wie Seifenblasen zerplatzen, sodass schlussendlich ein wahres Feuerwerk daraus resultiert.

Kommentar verfassen