Auf der Speerspitze des deutschsprachigen Indiepops da tänzelt eine Frau: Charlotte Brandi! Die Wahlberlinerin und Mitbegründerin von Me and My Drummer ist solo eine Wucht! Ernstzunehmende Konkurrenz muss man da wahrlich mit der Lupe suchen. Aber genug der Lobhudelei! Lassen wir Charlotte selbst zu Wort kommen, erscheint doch am Freitag ihr neues Album „AN DEN ALPTRAUM“.
Charlotte, einen spannenden Albumtitel hast du da gewählt. Kannst du uns von deinen Albträumen erzählen?
Meine Träume und besonders meine Albträume sind ziemlich deutlich. Sie enthalten oft sogenannte Archetypen und zeigen mir, wo ich im Leben aufpassen muss. Manchmal erschrecken oder lähmen sie mich aber auch. Daher wollte ich mit jenen schlechten Träumen sprechen. So gut wie jeder Song auf dem Album beantwortet einen ihm entsprechenden Albtraum. „DER EKEL“ ist die Antwort auf einen, wo ich auf einer Art Schulhof stand und von einer Horde Jungs im Wechsel angeflirtet und beleidigt wurde. „LUZERN“ versucht mein erschrockenes Ich zu trösten, „GELD“ entstand, nachdem ich geträumt hatte, ich sei auf Tour mit einer lustigen Horde Menschen vor einer riesigen schwarzen Wolke geflüchtet. Der Song „MEINE HUNDE“ ist auch interessant, denn manche Träume stellen sich in der Nacht als etwas Gutes dar, aber dann wacht man auf und merkt, wenn man dem Ganzen im echten Leben nachgehen würde, wäre man am Arsch. „KIND“ handelt von diversen schweißnassen Nächten, die ich aufgrund der Klimakatastrophe hatte und noch immer habe. „DIE LETZTE BRÜCKE“ finde ich persönlich am stärksten. Das ist der eigentliche Lead-Track, denn darin deckt die Erzählerin auf, dass der angebliche Traum eines Mädchens, sich zuerst zu verlieben, dann gewählt zu werden und schlussendlich eine Familie zu gründen, eine gefährliche Illusion sein kann, wenn die Frau nicht vorher alle Leben gelebt hat, die es sonst noch für sie zu leben gäbe. Das „P“ in „ALPTRAUM“ ist übrigens da, weil ich in letzter Zeit viel in bergigen Gegenden war. Das fand ich witzig.
Inwiefern sind Albträume denn aus deiner Sicht wichtig?
Ich stelle mich meinen Albträumen wie eine Kriegerin einem Ungeheuer. Daher auch das Cover. Ich glaube, dass ich im Leben nur wirklich weiterkommen und wachsen kann, wenn ich mich nach und nach mit den verschiedensten Monstern konfrontiere und ihnen etwas entgegensetze. Es reicht nicht, ihnen den Kopf abzuhauen, du musst sie umprogrammieren und mit guten Sachen füttern, bis sie selbst auch gut werden.
Wenn du an den Schreibprozess und die Produktion von „AN DEN ALPTRAUM“ zurückdenkst, was waren die größten Herausforderungen?
Ach, das Schreiben macht meistens einfach nur Spaß. Das ist eine schöne, seltsame, anarchische, sinnliche Sache, die ich mit mir und der Musik ausmache und bei der ich viel lernen kann. Die Produktion war schon schwieriger. Meine Mutter war nach einer schweren Herz-OP im Krankenhaus und ihr Fieber ging und ging nicht runter. Also habe ich versucht, den Mischprozess des Albums parallel zu der Fürsorge für meine Mutter in Dortmund laufen zu lassen. Ich bin mit meinem Vater noch zu einem Kollegen gefahren und habe mir Abhörboxen in den Keller meiner Eltern stellen lassen. Weil die Situation war wie sie war, konnte ich manchmal nicht sofort auf die Mischerin reagieren, die, wie sich leider herausstellte, als Person ziemlich unsicher war. Irgendwann zog sie sich zunehmend raus, antwortete immer vertröstender und es kam auch kein guter Mix zustande. Schlussendlich habe ich sie zur Rede gestellt und sie schrieb mir daraufhin eine E-Mail, in der sie meinte, dass sie aufhören werde. An dem Punkt war es kurz richtig problematisch, weil ich durch die Situation mit meiner Mutter schwach war. Gott sei Dank fand ich in Kiri Stensby einen mega guten Ersatz.
Du hast dich entschlossen, „AN DEN ALPTRAUM“ ausschließlich mit Hilfe von FLINTA*-Personen zu realisieren. Wird das eine einmalige Herangehensweise bleiben oder bleibst du auch zukünftig dabei?
Das weiß ich noch nicht genau. Es hat Vor- und Nachteile. Eigentlich ist der größte Nachteil, dass die Menge an FLINTA*-Personen, aus denen ich mein Team zusammenstellen kann, hierzulande leider klein ist. Quasi ein mathematisches Problem. Kein cis Mann im Musikbetrieb zu sein, ist ein ähnlich enger Filter, als hätte ich gesagt, ich wolle mein Album nur mit Menschen, die an einer Katzenhaar-Allergie leiden, machen. Und dann finde mal in einem abgesteckten Zeitraum unter denjenigen noch die Besten. Das war nicht einfach. Manchmal hätte es schon entstresst, wenn ich auf einen Mann und damit auf eine viel größere Auswahl hätte zurückgreifen können. Ich sag es mal so: Wenn’s aus irgendwelchen Gründen plötzlich eng wird – und das wird es öfter mal in kreativen Prozessen – dann ist es schon erleichternd, sich die Kollaboration mit Männern nicht zu verbieten. Allerdings war die Zusammenarbeit mit den FLINTA* auf besondere Weise angenehm. Wir brauchen mehr FLINTA*-Personen, damit männerfreie Kunst genauso größenwahnsinnig, genauso divers und genauso selbstverständlich machbar wird.
Mit was für Menschen hast du genau zusammengearbeitet und wonach hast du sie fern ihrer Identität ausgewählt?
Die Band, die die meisten Songs im Studio live eingespielt hat, bestand aus Isabel Ment an der Gitarre, Aine Fujioka am Schlagzeug und Shanice Ruby Bennett am Bass. Miche Moreno und Amanda Merdzan haben aufgenommen. Mit Isabel arbeite ich immer wieder zusammen, eigentlich seit dem Jahr 2017 oder so. Shanice kam vor ein paar Jahren aus Köln nach Berlin und ist als bester Mensch am Bass sofort stadtbekannt geworden. Aine war ein heißer Tipp von Fee Kürten (Tellavision). Ein anderes Kriterium als gut sein und Zeit haben ist für mich nicht mehr so schrecklich wichtig. Ich freue mich immer mehr darauf, wenn meine Musik neue Gesichter annimmt, je nachdem, wer zufällig Zeit für den Job hatte.
Wie lebt es sich 2023 als Frau in einer von Männern dominierten Welt?
Ich persönlich lebe ziemlich gut und schleppe einen ganzen Batzen an Privilegien mit mir herum, die mich in einer männergemachten Welt ganz okay dastehen lassen. Gleichzeitig sind aber die meisten globalen Schmerzen und Probleme von Männern verursacht.
„AN DEN ALPTRAUM“ soll auch eine Ermutigung für all die jungen FLINTA*s da draußen darstellen. Hättest du dir als Mädchen ein ähnliches Statement gewünscht?
Ich würde sogar behaupten, dass ich vor allem deshalb ein glühender Alanis Morissette-Fan wurde, weil ich sie als erste Frau wahrnahm, die sich im Mainstream nicht sexualisiert hat. Ich weiß noch, wie ich stundenlang vollkommen hypnotisiert mit elf Jahren vor dem Fernseher saß und die „Jagged Little Pill – LIVE“-VHS, ein Making-Of über die erste Welttournee von Alanis Morissette, rauf und runter geguckt habe. Damals hätte ich niemandem erklären können, warum diese Erscheinung einer Frau in Oversized-T-Shirt, Lederhose und Cowboy-Boots mich derart gefangen genommen hat. Heute schätze ich, war es die Tatsache, dass ich hier einem Menschen dabei zusehen konnte, wie er in der Musik vollständig aufging und dass ich selbst dieses Menschsein in mir viel stärker gespürt habe als das Frausein. Obwohl ich ziemlich links-alternative Eltern hatte, gab es in unserem Haushalt keine verbissene Musik von krassen Feministinnen oder so. Aber meine Mutter hat, nachdem es ihre politische Rockband Cochise nicht mehr gab, beim Radio gearbeitet und eben hier und da verschiedene Schätze ausgegraben. Auf Courtney Love bin ich erst später gekommen. Die war eigentlich noch viel krasser.
Wie hast du es geschafft, zu dem Punkt zu gelangen, an dem du sagen konntest, dass deine LP fertig ist? Und wie viel Restzweifel an dieser Entscheidung blieben übrig?
Och, das sagt einem eine Platte ab einem bestimmten Punkt von innen heraus. Das ist vielleicht ähnlich wie beim Theater: Man könnte natürlich immer noch ewig weitermachen, aber am Ende richtet man sich nach weltlichen Umständen. Nach Geld und Deadlines und dann ist es wichtig, von sich selbst nicht Übermenschliches zu verlangen, sonst verzettelt man sich. Ich muss allerdings sagen, dass ich als nächstes gern mit einem größenwahnsinnigen Menschen zusammenarbeiten möchte. Da habe ich dann auch keine Geschlechtervorgabe mehr. Mein Eindruck war, dass ich als Charlotte und vielleicht auch als sozialisierte Frau für meine eigenen, im Grund wahnsinnig guten Ideen nicht größenwahnsinnig genug bin. Außerdem vermisse ich Teamwork auf der Produzentenposition.
Früher hast du deine Texte auf Englisch geschrieben, jetzt auf Deutsch. Was hat das mit dir als Musikerin gemacht? Und wie ist das Feedback deiner Hörer*innen darauf?
Dieses geheimnisvolle Deutsch wird ja von vielen als so hässlich, hart und unmelodisch wahrgenommen. Ich glaube, früher fand ich englische Musik cooler, denn wenn du etwas nicht sofort Wort für Wort verstehst, dann überschätzt du den Inhalt gerne mal. „Oh, wow, was diese Franzosen, Polen, Griechen und Georgier da grade singen, ist sicher super-duper deep“. Dabei muss das nicht der Fall sein. Das war ein bisschen das nächste Monster, dem ich mich stellen wollte. Zu gucken, wie gut ich wohl auf Deutsch texte. Was ist das eigentlich, ein guter deutscher Text? Mittlerweile glaube ich, er kann sehr schlicht sein, wenn er musikalisch gut inszeniert ist.
Trotzdem sind deine Lyrics unglaublich! Absolut bildreich und smart. Woher nimmst du all diese Worte?
Oh, vielen Dank! Woher die kommen, das weiß ich nicht. Aber immer öfter kommen sie aus einer echten Anstrengung heraus, aus einem richtig ernst nehmen, dass ich da jetzt etwas sagen muss. Vielleicht tatsächlich aus einer Mischung aus Sinnlichkeit und einem gewissen Ernst der Lage.
Welche sind deine liebsten deutschsprachigen Acts?
Sowas habe ich nicht. Ich höre wenig deutsche Musik. Das würde mich sonst glaub ich nur von mir selbst ablenken. Tristan Brusch ist natürlich sehr gut. Einer der besten Texter, die es gibt.
Viele Musiker*innen müssen aktuell ihre Touren absagen, weil Liveshows mit großen finanziellen Risiken verbunden sind. Wie blickst du auf die aktuelle Situation?
Es ist zum Kotzen! Ich habe keine Ahnung, wie mein Jahr aussehen wird. Ich verlasse mich auf meinen Booker.
*Die Abkürzung FLINTA steht für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen
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