Im letzten Mai erschien mit „Hopelessness“ nicht nur Anohnis (ehemals Antony Hegarty von Antony and the Johnsons) neue LP, sondern auch unser Album des Jahres 2016. Der androgyne Gospelkönig hatte sich darauf zur gesellschaftskritischen Stroboskopdiva aufgeschwungen und seine stets feingeistigen Kompositionen in flirrendes Discolicht getaucht. „Hopelessness“ manifestierte die Weiterentwicklung einer Musikerin, die das Grenzüberschreiten keineswegs scheut. Die nicht zurückschaut, sondern sich den Herausforderungen des Hier und Jetzt stellt. Dabei strotzte die Platte nur so vor Charakter. Als Anohni dann im Juli auf große „Hopelessness“-Tour ging, waren ihre Fans gespannt, wie die Transgender-Künstlerin die Brücke zwischen ihrer aktuellen und ihrer ehemaligen Soundidentität im Live-Kontext schlagen würde. Zur Überraschung vieler tat sie aber genau das nicht. Stattdessen inszenierte sie eine Show, in der sie die Songs von „Hoplessness“ kompromisslos in den Fokus stellte – ohne Verweise auf ihren früheren Backkatalog. Begleitet von meterhohen Videoprojektionen, auf denen sich die Lippen von Frauen verschiedenster Ethnien zu den live von einer verschleierten Anohni dargebotenen Lyrics bewegten, walzen Stücke wie „Drone Bomb Me“ oder „4 Degrees“ über das Publikum. Gewaltig und unaufhaltsam – ohne jedwede Zwischenbemerkungen, denn auf diese verzichtete die 45-Jährige gänzlich. Nun hätte die Darbietung der elf Stücke von „Hoplessness“ ein recht kurzes Konzert abgegeben, wären da nicht noch ein paar weitere, bisher unveröffentlichte Tracks gewesen, die den Zuhörern erstmalig entgegen geschmettert wurden.
Den Hoffnungen und Bitten vieler, und vermutlich nicht zuletzt Anohni selbst, folgend, erscheinen besagte Tracks dieser Tage auf der EP „Paradise“ – zumindest dem Titel nach ein optimistisches Gegenstück zu dem inhaltsschweren „Hopelessness“. Doch weit gefehlt. Gewohnt provokativ und bedeutungsschwanger, wenngleich immer erhobenen Hauptes, setzt Anohni auch bei Stücken wie „Richochet“ oder „Paradise“ auf die Aussagekraft ihrer Botschaften sowie drohende Beats und scharfkantige, computergenerierte Sounds. Es wird nichts schön geredet, aber auch nichts schwarzgemalt. Anohni präsentiert ihre Sicht auf die Dinge und die Missstände unserer Welt. Oder sie lässt andere zu Wort kommen, wie zum Beispiel die Aborigines-Künstlerin Ngalangka Nola Taylor („Nolas Speech“), deren markantes Gesicht den Höhepunkt an den Abenden der „Hopelessness“-Tour bildete. Die „Paradise“-EP lässt uns erneut am Phänomen Anohni teilhaben. Sie lässt uns zurückdenken an die Gewaltigkeit ihrer Ausstrahlung, während sie auf der Bühne stand, beziehungsweise gibt denen, die die Tour verpasst haben, einen Eindruck davon, was sich in den Hallen vieler Venues abspielte. Auch das Produktionsgeschick von Hudson Mohawke und Oneohtrix Point Never, die sich bereits auf „Hopelessness“ engagierten, begeistert aufs Neue. Ein Muss für alle, die „Hopelessness“ genauso verehren, wie wir es tun, oder die in ihren Erinnerungen noch immer gern zu jenen aufgeladenen Shows im Sommer zurückwandern.
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